Trawny, P. (2020). Heideggers Denken. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der
Philosophie. Cuestiones de Filosofía, 6 (27), 91-109.
doi: https://doi.org/10.19053/01235095.v6.n27.2020.12021
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Heideggers Denken. Anmerkungen zur
Rezeptionsgeschichte der Philosophie
1
Heideggers thinking. Remarks on the history of the
reception of philosophy
Peter Trawny
2
Bergische Universität Wuppertal, Deutschland
Recepción: 01 de noviembre del 2020
Evaluación: 12 de noviembre del 2020
Aceptación: 20 de noviembre del 2020
1
Este artículo fue escrito en el marco del trabajo investigativo realizado en el Martin
Heidegger-Institut (Martin Heidegger-Forschungsstelle) de la Bergische Universität
Wuppertal.
2
Estudió Filosofía, música e historia del arte en la Ruhr-Universität Bochum y en la Albert-Ludwigs-
Universität Freiburg. Dr. por la Bergische Universität Wuppertal. Posdoctorado y habilitación en la
misma Universidad.
Correo electrónico: petertrawny@aol.com
Artículo de investigación
Cuestiones de Filosofía
ISSN: 0123-5095
E-ISSN: 2389-9441
Vol. 6 – Nº 27
Julio - diciembre, año 2020
pp. 91-109
92
Cuestiones de Filosofía No. 27 - Vol. 6 Año 2020 ISSN 0123-5095 Tunja-Colombia
Resumen
El presente artículo parte de la afirmación de que la historia de la filosofía se
ha objetualizado en escritos, obras y discursos, que constituyen la base de su
recepción. Se indaga en segundo lugar si esta recepción permite captar lo más
propio de lo que es la filosofía y no solamente la comprensn de la misma
desde la perspectiva europea. Con base en este punto de partida se reflexiona
en torno al carácter propio de la filosofía en Martin Heidegger, resaltando
la influencia de ésta más allá de su recepción académico-institucional
(caso de los Cuadernos negros, por ejemplo). Los puntos fundamentales
que se enuncian al respecto son: a) no se puede decir que Heidegger tenga
una filosofía, pues él mismo no admite etiqueta alguna, b) si la actividad
filosófica se convierte en una profesión –se institucionaliza–, cuya técnica
consiste en poner simplemente en relación la lectura de textos, se pierde allí
lo que realmente debe acontecer: el pensar mismo, c) es por ello que con el
pensar mismo no se trata de resultados alrededor del conocimiento, sino de
caminos y encaminamientos (Be-Wegung), d) tal pensar no produce conceptos
estables, sino términos que en el movimiento del pensar se transforman y
conducen a neologismos, e) de esta manera el asunto del pensar es un Nicht-
Sache o un Un-Sache, algo no señalable, f) en la pregunta por el sentido del
ser se despliega el espacio y el tiempo en el que se puede encaminar el pensar.
Palabras clave: Heidegger, objetualización de la filosofía, pensar, encaminar
(Be-Wegung), Nicht-Sache.
Abstract
The present paper starts on the affirmation that the history of philosophy is
been objectified in writings, works and speeches, which constitute the basis
of its reception. The second point inquires if this reception allows us to grasp
the most characteristic of what philosophy is, and no only the understanding
of it from the European perspective. Based on this starting point we reflect
around the character of philosophy in Martin Heidegger, highlighting its
influence beyond academic-institutional reception (the case of the black
notebooks, for example). The fundamental points that are enunciated in this
matter are: a) it cannot be said that Heidegger has a philosophy, since he
himself does not admit any label, b) if the philosophical activity becomes a
profession -it is institutionalized-, whose technique consists of simply putting
in relation the reading of texts, what really must happen is lost there: c) that
is why thinking itself is not about results around knowledge, but about paths
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and routes (Be-Wegung), d) such thinking does not produce stable concepts,
but words that in the movement of thinking are transformed and lead to
neologisms, e) in this way the matter of thinking is a Nicht-Sache or an Un-
Sache, something not to be pointed out, f) in the question of the sense of
being unfolds the space and time in which thinking can be directed.
Keywords: Heidegger, objectification of philosophy, thinking, Be-Wegung,
Nicht-Sache.
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Die Geschichte der Philosophie ist –auf den ersten und zweiten Blick gesehen–
eine der Texte und Rezeptionen. Philosophen und seit ungefähr einem
Jahrhundert Philosophinnen sind auf das Medium der Schrift verwiesen, um
ihre Gedanken vor dem Vergessen zu sichern und zu archivieren. Platons
Schriftkritik bzw. Sokrates’ Schriftverweigerung haben zwar ein kritisches
Bewusstsein in Bezug auf die Schriftlichkeit des Denkens ermöglicht, doch
die institutionalisierte Philosophie kann ohne Texte und ihre philologische
Bearbeitung –ohne das Archiv ihrer Geschichte– nicht existieren.
Das ist nicht unwichtig: Philosophie, welche auch immer, anerkennt die
Notwendigkeit, sich in Texten zu manifestieren. Nur so kann sie dauerhaft
und unverändert einer beliebigen Leserschaft zugänglich sein, nur so via
Übersetzungen jeweils in anderen ndern, auf anderen Kontinenten,
in anderen Sprachen rezipiert werden. Nicht zu Unrecht spricht Marx an
exponiertester Stelle von der Entstehung der „Weltliteratur“ (Marx und
Engels, 2010)
3
. So wäre zu fragen und wurde gewiss schon gefragt, ob nicht
die Kolonisierung der Welt von Europa her auch eine Kolonisierung durch
Schrift gewesen ist (Derrida, 1983) und welche Rolle die philosophischen
Texte bei dieser Kolonisierung gespielt haben. Überhaupt wäre zu fragen,
welche Bedeutung der Text, das Buch, für die Verbreitung einer bestimmten
Auffassung von Geist und Bildung in der Welt hatte oder noch hat.
Inzwischen ist die Diskussion zur Frage nach den Vorzügen oder Nachteilen
der Digitalisierung übergegangen. Zweifellos ist das World Wide Web ein
anderes Medium als die Schrift und das Buch. Die Veränderungen in der
Rezeption von Philosophie und Literatur sind noch diffus, aber spürbar.
Doch das ist anderswo zu reflektieren.
Die Festlegung der Geschichte der Philosophie als eine von Text und Schrift
bedeutet in sich die Favorisierung des „Werks“ oder auch des „Diskurses
als ihre zentralen Erscheinungsformen. Philosophie vergegenständlicht sich
demnach, muss sich vergegenständlichen, um überhaupt das Objekt einer
Rezeption werden zu können. Diese Tendenz der Philosophie zu ihrer eigenen
Verobjektivierung ist ein Problem. Es erinnert an die Frage, was Philosophie
sei.
3
„Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion al-
ler Länder kosmopolitisch gestaltet. (…) Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird
mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine
Weltliteratur“.
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Mich interessiert, welche Rezeptionshaltung und -gewohnheit sich aus
diesen Verobjektivierungen für die Philosophie ergab und ergibt, wie sich
also schon seit Jahrhunderten ein Zugang zur Philosophie sedimentiert, der
die Schrift(en), den Text, das Werk, den „Diskurs, in ihre Mitte stellen.
Darüber hinaus möchte ich fragen –naheliegender Weise–, ob das Innerste
der Philosophie selbst, das, was sie nicht nur sein will, sondern eigentlich
auch sein muss, um sie selbst zu sein, in dieser Rezeptionssedimentierung
erfasst oder auch nur berührt wird. Ich möchte dabei keineswegs allein
auf das europäische Verständnis einer zum Wissen (epistéme) tendierenen
Philosophie hinaus. Mir ist bewusst, dass die Redeweise von einem „Innersten
der Philosophie“ –gleichsam von ihrer Seele– nicht unproblematisch ist.
Doch ich möchte an ihr festhalten.
Um diesen Fragen näher zu kommen, möchte ich mich auf einen Vorgang
beziehen, der in der Geschichte der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts
gewiss nicht allzu häufig zu finden ist. Es geht mir um die vor allem
institutionelle Rezeption der Philosophie Martin Heideggers; allerdings
eine Rezeption, die auch über die Grenzen der institutionell-akademischen
Wahrnehmung hinaus eine Wirkung entfaltet hat. Meine These ist die, dass
die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte und auch der vielen Anmerkungen
zu Sein und Zeit (vor allem im Band 82 der Gesamtausgabe) (Heidegger, 2017)
auf einzigartige Art und Weise die Rezeption dieser Philosophie verändert
haben. Dieser Vorgang oder diese Veränderung wirft wiederum ein Licht auf
das angesprochene Problem der Art und Weise, wie Philosophie überhaupt
rezipiert wird und werden kann.
Als 2013/14 die ersten später von Heidegger selbst so genannten Schwarzen
Hefte erschienen, drehte sich die hektische Diskussion vor allem um
die in ihnen befindlichen antisemitischen Äußerungen. Sie spaltete die
Diskutierenden mehr oder weniger in drei Lager: Da waren die orthodoxen
Heidegger-Apologeten, die, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann
4
(von
Herrmann und Alfieri, 2017), überhaupt den Status der Schwarzen Hefte
als ernstzunehmenden Werkteil im Heideggerschen Denken bezweifelten
und die sich auf Juden und Judentum beziehenden Passagen nachgerade
für berechtigte Juden-Kritik“
5
(Vietta, 2015) hielten; dann gab es die
4
Bereits der Titel verkündet ein Dogma, das nichts mit Heideggers Denken zu tun hat.
5
Um einen Überblick über die verschiedenen Positionen in der mehr oder weniger aktuellen
Diskussion zu gewinnen, sei auf die Aufsatzsammlung Heidegger und der Antisemitismus.
Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger (2016) hingewiesen.
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orthodoxen Heidegger-Kritiker, die, wie Emmanuel Faye (2005) schlechthin
Heideggers gesamtes Denken im Antisemitismus und Nationalsozialismus
kulminieren ließen; ein dritter Zugang versuchte, die antisemitischen (oder
nicht-antisemitischen)
6
(Chighel, 2020) Gedanken ernstzunehmen, ohne
sie zum Kriterium einer Generalabrechnung zu erheben. Er wurde von den
beiden anderen Auslegungen jeweils der gegnerischen Seite zugerechnet. In
beiden dogmatischen Positionen sind ideologische Momente ubersehbar.
Nicht unwahrscheinlich, dass sie zu einer größeren gesellschaftlichen
Spaltung gehören.
Der Streit um Heideggers Positionierung zum Judentum selbst hatte einen
Einfluss auf die akademische Rezeption dieses Denkens. In Zeiten von
„Political Correctness“ und „Cancel Culture“ ist es unwahrscheinlich, dass
die zunächst öffentliche Abkanzelung eines Philosophen ohne Effekt auf
seine akademische Rezeption bleibt. Es ist daher in Deutschland schwieriger
geworden, Heideggers Denken jenseits moralisch-politischer Vorurteile oder
Urteile zu studieren. Das mag in anderen Ländern, anderen Universitäts-
Kulturen anders sein. In China haben Antisemitismus-Diskussionen eine
andere Bedeutung als in Europa.
Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Heidegger-Rezeption weniger durch
die moralisch-politischen Stellungnahmen des Philosophen, sondern mehr
noch durch den in den Schwarzen Heften neu erprobten Stil des Denkens,
seine neue, bisher unbekannte Äußerungsform, erschüttert wurde. Denn
mit der Veröffentlichung der neun Bände Schwarze Hefte in Heideggers
Gesamtausgabe (sowie seinen Selbstauslegungen von Sein und Zeit) wird
deutlich, dass die Positionierung des Heideggerschen Denkens um ein oder
zwei Hauptwerk(e), um Sein und Zeit und die Beiträge zur Philosophie, dem
Charakter dieses Denkens nicht entspricht.
Dabei hatte Heidegger schon früh begonnen, seine Rezeption zu kritisieren.
In der Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie vom Sommer
1932 teilt er mit:
Ich habe keine Etikette für meine Philosophie, und zwar deshalb nicht, weil
ich keine eigene Philosophie habe; ja überhaupt keine Philosophie, sondern es
handelt sich bei meinen Bemühungen nur darum, den Weg dahin zu erobern
6
Wer meine Auslegung von Heideggers „seinsgeschichtlichem Antisemitismus“ verstehen und kriti-
sieren will, muss dieses ausgezeichnete Buch, das ich aus dem Englischen übersetzte, lesen.
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und zu bereiten, daß Künftige vielleicht wieder mit dem rechten Anfang der
Philosophie anfangen können (Heidegger, 2012)
Heidegger habe nicht nur „keine eigene, sondern „überhaupt keine
Philosophie. Das sagt er ein halbes Jahrzehnt nachdem er sich mit der
Veröffentlichung von Sein und Zeit an die Spitze nicht nur der deutschen
und europäischen Philosophie katapultiert hatte. Auch in Südamerika und im
fernen Asien begann man, Heidegger zu rezipieren.
Dass ein Philosoph „überhaupt keine Philosophie“ vertrete, klingt zunächst
rhetorisch. War Heidegger nicht der berühmte Professor der Philosophie an
der Freiburger Universität, deren Rektor er im nächsten Jahr werden sollte?
Saßen nicht Massen von Studenten und Studentinnen in seinen Vorlesungen
und Seminaren, die seinen Worten folgten? Waren seine Vorträge nicht
Ereignisse eines nachgerade öffentlichen Interesses? Heidegger gehörte zur
Institution der deutschen Universität, zum „Establishment“, und doch sind
seine Worte, er vertrete „überhaupt keine Philosophie“ nicht falsch. Sein
Hinweis, er arbeite dafür, „dKünftige wieder mit dem rechten Anfang
der Philosophie anfangen können, dass also „überhaupt“ wieder mit der
Philosophie angefangen werden könne, bezieht sich auf jene Differenz im
Denken, von der beiläufig am Beginn des Textes die Rede war.
Heidegger wurde nicht nur Anfang der Dreißigerjahre häufig mit Karl Jaspers
in einem Atemzug als „Existenzphilosoph“ bezeichnet. Dass Heidegger im
Sommer 1932 darauf verweist, keine Etikettefür sein Denken zu haben,
kann eine Reaktion auf die Publikation der dreibändigen „Philosophie“ von
Jaspers im selben Jahr sein. Inzwischen wird allgemein anerkannt, dass
Heideggers und Jaspers’ Projekte stark divergieren. Doch Heidegger will
mehr als sich einem modischen Diskurs zu entziehen. Er betont, dass die
Vergegenständlichung der Philosophie im Text ein Problem darstellt. Mit ihr
entsteht ein Objekt, ein „Werk“, das im Prozess der Lektüre angeeignet werden
kann. Wenn nun diese Tätigkeit zu einem Beruf wird und die Technik dieses
Berufes darin besteht, Lektüren von Texten miteinander zu verbinden, geht
verloren, was sich jeweils vor und nach der Sedimentierung des Gedankens
im „Werk“ ereignet: das Denken selbst.
Das war es ja, was Platon mit seiner Schriftkritik im Phaidros sagen wollte:
O kunstreicher Theut. Einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu
gebären; ein Anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen
bringen, die sie gebrauchen werden. So hast du auch jetzt als Vater der
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Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn
diese Erfindung wird der [sic] Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit
einfßen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen
auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht
aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden (Platon, 2017,
274e-275a).
So berichtet Sokrates eine ägyptische Geschichte von der Begegnung
zwischen dem Gott Theut und dem König Thamos, ohne Zweifel ein
ehrwürdiger Mythos für den griechischen Philosophen. Die Schrift bringt
Vergessenheit (the), sie behindert das Erinnern (amnesis) –und was ist
das Denken anderes als Erinnern? Wäre dann nicht die „Seinsvergessenheit“
eine Art von „Denk-Vergessenheit, ein Missverständnis des Denkens, das
so früh schon, am Anfang der Philosophie, zu wirken begann?
Erstaunlich ist, dass in jener Äußerung von Heidegger aus dem Sommer
1932 en passant schon das Wort erscheint, das er später auf vielfältige Art
und Weise zur Charakterisierung seines Denkens verwendet hat: es handele
„sich bei meinen Bemühungen nur darum, den Weg dahin zu erobern und
zu bereiten, daß Künftige vielleicht wieder mit dem rechten Anfang der
Philosophie anfangen können (kursiv von mir). Ungefähr seit Mitte der
Fünfzigerjahre beginnt Heidegger, das semantische Feld des „Weges“, der
„Bewegung“, auch des „Gehens“ und des „Gangs“ zu bearbeiten. Das Motto
der Gesamtausgabe, Wege nicht Werke“ (Heidegger, 1978), verweist
zurück auf eine lange Beschäftigung und einen ausgiebigen Gebrauch dieser
Entgegensetzung.
Was ist die, wie es in Winke I“ vom Ende der Fünfziger Jahre heißt,
„innerste Be-wgnis des Denkens“? (Heidegger, 2020a, p. 43) Heidegger hat
die Bedeutungen des „Weges“ bis in die Titel seiner „Werke“ hinein sehr
ernst genommen (Holzwege, Wegmarken, Der Feldweg, Unterwegs zur
Sprache etc.). Das auch graphisch markierte Be-gen(Heidegger, 1985,
p. 199) eröffnet Wege des Denkens, die nicht durch Ziele definiert werden.
Heidegger ist sich der Besonderheit einer solchen Auffassung von Philosophie
bewusst, wenn er schreibt:
Wege Vielleicht ist die Blindheit für dergleichen wie Wege des Denkens für
das Denken, das als Denken unterwegs– und wege-bauend ist –das ärgste
Hindernis für ein fruchtbares Gespräch mit meinen Denkversuchen. Man
bringt es nicht über sich, sich auf den Weg zu begeben–. Man will Ergebnisse
und zwar nach irgendwelchen Kriterien der Sicherung (Heidegger, 2019, p.
190).
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Tatsächlich scheint die Rede von „Wegen, so einleuchtend ihre Rückführung
auf die griechische Bedeutung der Methode ist, nicht unproblematisch zu
sein. Zunächst ist es nicht zu übersehen, dass Heidegger von „Wegen“ und
nicht einfach, wie ein in der Forschung bekannter Buchtitel es tut, von dem
Denkweg“ (ggeler, 1963)
spricht. Das Denken bildet nur insofern eine
Kontinuität aus, als es synchron verschiedene Wege“ bildet und verfolgt.
Dieser Aspekt der konkreten philosophischen Arbeit hat sich bei Heidegger
darin niedergeschlagen, dass er häufig an verschiedenen Manuskripten
gleichzeitig gearbeitet hat, die oftmals stilistisch große Unterschiede
aufweisen.
Zudem hebt die Differenzierung von „Weg“ und „Ergebnis, d.h. Ziel, das
Denken in eine eigentümliche Schwebe. Warum denken wir überhaupt, wenn
es nicht darum geht, bestimmte Denkprobleme zu lösen? Das ist es nämlich,
was Heideggers Denken immer wieder betont. Es gehe nicht um Resultate,
um Erkenntnisse, sondern um die „Be-Wegung“ (Heidegger, 2019, p. 214)
selbst:
An meinem Weg verkennt man bisher immer wieder –wissentlich oder
unwissentlich– zwei wesentliche Be-stimmungen:
1. daß dieses Denken überall und stets sich als vor-läufiges versucht;
2 daß in dieser innegehaltenen Vorläufigkeit die ständig ursprüngliche
Selbstkritik verankert ist (p. 55),
schreibt Heidegger in einem der späteren Schwarzen Hefte. Ein „vor-läufiges“
Denken ist eines, das sich „vor“ bewegt, dass in diesem Sinne vor-denkt.
Zugleich ist es stets revidierbares, niemals vollendetes Denken. Das kann
dieses Denken sein, weil es in einer „ständig ursprünglichen Selbstkritik
verankert“ ist. Die Kritik kommt demnach nicht später zum Denken hinzu,
sondern bildet schon seinen Anfang. Offenheit, von der Heidegger so häufig
spricht, ist kein Ziel des Denkens. Sie ist seine Realisierung, sein Vollzug.
Und wenn das Denken von Beginn an Kritik ist, dann ist sie Offenheit. Und
was sollte Kritik anderes sein?
„Innerste Be-wgnis des Denkens“ ist gedankliche Bewegung als intellektuelle
Intimität. Dieses Denken befindet sich immer „kritisch“ in Distanz und
Differenz zu sich selbst, es nimmt seine sprachliche Äußerungsweise als Feld
jener Bewegung. Daraus entspringt übrigens die offenbare Unbegrifflichkeit
dieses Denkens. Es schafft keine stabilisierenden „Begriffe“, sondern arbeitet
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Cuestiones de Filosofía No. 27 - Vol. 6 Año 2020 ISSN 0123-5095 Tunja-Colombia
sich an „Worten“ ab, die in der Bewegung des Denkens eine Veränderung
erfahren. Dieses Arbeiten in und an den Bedeutungen, die sich wiederum als
Worte“ manifestieren, erscheint zuweilen als eine sinnlose Produktion von
Neologismen, in der jeglicher Gegenstand des Denkens verloren geht. Doch
dieses Denken hat von vornherein keinen Gegenstand.
Heidegger hat die von Husserl formulierte Parole „Zu den Sachen selbst!“
modifiziert, indem er von der Sache des Denkens“ (Heidegger, 2007) spricht.
Der Genitiv ist zweideutig. Er besagt, dass es eine vom Denken bearbeitete
„Sache“ gibt, wie dass diese „Sache“ das Denken selbst ist. Wie auch immer
Heidegger sonst noch die „Sache“ erläutert hat, so scheint die Redewendung
doch eine Bedeutung zu konstatieren, die es in Heideggers Denken nicht
geben kann.
Wenn man ernstnimmt, was Heidegger über das Be-wëgendes Denkens
sagt, dann kann Sein und Zeit, können die „Beiträge zur Philosophie“ kein
„Hauptwerk“ sein, sondern eben „Wege“ unter vielen. Dennoch kommt
dort, in Sein und Zeit, jene Trope von der „Frage nach dem Sinn von Sein
(Heidegger, 1977, p. 1) zum ersten Mal zum Vorschein. So sehr diese
Frage gleichsam dogmatische Bedeutung hat, da sie z.B. in akademischen
Kontexten als „Heideggers Fragegelehrt werden kann, so wenig ist jemals
deutlich geworden, was sie besagt.
Zwar wurde in Sein und Zeit selbst mit dem Hinweis auf die „Zeitlichkeit“
des „Daseins“ eine Antwort angedeutet. Doch schnell wurde klar, dass
diese nur provisorisch war. Gewiss hat der Philosoph versucht, die Frage
zu erläutern, indem er den „Sinn“ als die „Wahrheit des Seins“ bestimmte.
Doch haben wir die „Frage nach dem Sinn von Sein“ verstanden? Hat er sie
verstanden? Geht es in diesem Denken ums „Verstehen? War nicht gerade
die Dunkelheit der Frage derartig produktiv, dass sich ein Denken Jahrzehnte
lang an ihr abarbeiten konnte? Es geht nicht nur darum, zu verstehen, dass
das Denken „unverständlich ist (Heidegger, 2015, p. 373)
7
, sondern dass
es in der „Seinsfrage“ um etwas anderes als die Verständlichkeit geht. So
schreibt Heidegger: „Die Seinsfrage in Sein und Zeit sucht als Erfragen der
Wahrheit des Seins nicht eine Antwort auf eine Frage, sondern sucht das
fraglose eigentliche Antworten als Gehören in die ‚Wahrheit‘ als dem Seyn
des Seins“ (p. 274).
7
Heideggers Bestreitung der „Verständlichkeit“ es Denkens ist notorisch.
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Das Denken bezeugt seine Zugehörigkeit zu dem, was es denken lässt. Die
Zugehörigkeit ist „fraglos, weil sie das Denken erst erglicht. Um diese
Erglichung geht es im Denken beinahe allein. Sie erweist sich demnach
als „Wahrheit“ im Sinne jenes zusammengehörenden Wechselspiels von
Verbergung und Entbergung. Gerade das Verborgene (die léthe) –was niemals
zur Erscheinung kommen kann– gibt Denken frei. Was schon verstanden ist,
blockiert das Denken. Was zu verstehen sein wird, wird es blockieren. Nur
das Unverstehbare lässt gänzlich ungehindert denken.
Ein weiterer Lehrgehalt dieses Denkens ist die aus der „Seinsfrage“ selbst
folgende „ontologische Differenz“. Das „Sein selbst“ sei „nichts Seiendes“.
Über Jahrzehnte hinweg wurde diese „Differenz“ zum Angelpunkt des
Heideggerschen Denkens erklärt. Die Rezeption von Heideggers Philosophie
drehte sich nicht selten einzig um sie (Trawny, 2016, pp. 59-68). Doch auch
diese Denkfigur hat Heidegger später kritisiert, wenn auch offen gehalten:
„Also ist der Weg durch die Differenz irrig und darum vergeblich. Gleichwohl
wurde der Gedanke an die Differenz als solche zum Anlaß, den Denkblick
für ganz Anderes –in der ‚Seinsfrage‘ dunkel Gesuchtes– zu öffnen und frei
zu halten“.
Das „Sein selbst“ als das „ganz Andere“ zu denken, führt zu einer Philosophie,
in der „Verdinglichung“ notwendig ein zentrales Thema wird. Schon sehr
früh, noch vor Lukacs „Geschichte und Klassenbewußtsein, warnt
Heidegger in einer Vorlesung vor der wissenschaftlichen „Verdinglichung“
des ungegenständlichen Lebens (des biographischen, nicht biologischen)
in seiner stets selbstbezogenenen Verwirklichung. Wie ist eine notwendig
verobjektivierende Wissenschaft vom Leben möglich, wenn dieses niemals
Gegenstand sein kann? Die Denkfigur ist bereits aus der „Negativen
Theologie“ vertraut. Das „Leben“ oder „Sein selbst“ ist –weil jenseits aller
Gegenständlichkeit, jenseits des Seienden– namenlos. Jeder Sinn verstellt es,
entfremdet es von sich selbst
8
.
8
Heidegger fragt sich, was Wissenschaft als Denk- und Sprachform notwendig voraussetzt. So
ndet er eine „Leitidee der Wissenschaft überhaupt und jeder Wissenschaft“. 1919/20 nennt er
sie: die „Idee der Dinglichkeit“ oder, besser, „Verdinglichung“ (Heidegger, 1993, p. 127). Vgl.
auch Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie. 1. Die Idee der Philosophie und das
Weltanschauungsproblem. 2. Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie (1999, p. 66).
„Verdinglichung“ –es ist ein historisches Rätsel, woher Heidegger im Winter 1919 diesen Begri
hat. Er verwendet ihn auch in „Sein und Zeit“. Man hat einen Einuss von Lukacs’ „Geschichte
und Klassenbewußtsein“ angenommen, doch das Buch erscheint erst 1923. Sollte Heidegger 1919
102
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In seiner Antrittsvorlesung von 1929 Was ist Metaphysik?“ hat Heidegger
der Wissenschaft vorgeworfen, keine Ahnung vom „nichtenden Nichts“ zu
haben (Heidegger, 1976, p. 106)
9
. Das ist natürlich nur allzu richtig. Eine
Wissenschaft vom Nichts würde schnell an ihr Ende gekommen sein.
In der positivistischen Ausrichtung der modernen Wissenschaft hat eine
solche Formulierung geradezu etwas Komisches, sie lädt zu absurden
Ausschweifungen ein (Drittmittelforschung zum oder auch für Nichts). Für
die Philosophie gilt das Gegenteil. Sie thematisiert das Nichts im eminenten
Sinne.
Heideggers Denken bewegt sich im Ungegenständlichen und findet dafür
immer wieder neue Sprech- und Schreibfiguren. Die „Sache des Denkens“
ist demnach ohne Zweifel eine Un- oder Nicht-Sache, nichts, worauf das
Denken zeigen oder aufbauen könnte. Es liegt auf der Hand, zwischen der
„innersten Be-wgnis des Denkens“ und dieser Ungegenständlichkeit seiner
„Sache“ einen Zusammenhang zu sehen. Das Denken kommt deshalb nicht zu
Resultaten, weil jedes Resultat zum Gegenstand gerinnt. Nicht auf Resultate
gerichtet, sind die „Wege“ dieses Denkens ziellos.
Man kann fragen, ob dieses gegenstandslose Denken sich darum dreht, die
„Bedingungen der Möglichkeit“ des „Seienden“ zu erfassen. Das scheint
letztlich eine metaphysische Denk for m zu sein, die Heidegger gerade unterlaufen
wollte. Eine solche „transzendentale“ Begründung des Philosophierens
hat er in Sein und Zeit angetroffen, um sie zu kritisieren. Ein Denken, das
auf „Bedingungen der Möglichkeit“ aus ist, bleibt gegenstandsbezogen.
Heideggers Denken destruriert solche Begründungsfiguren.
Vielleicht nicht überall. Doch ich würde dafür votieren, dass dort, wo
Heidegger z.B. zu massiven kulturkritischen Bemerkungen kommt, er hinter
seinen eigenen Anspruch, das ungegenständliche „Sein selbst“ (in welcher
Bedeutung auch immer, z.B. in der des „Ereignisses“) zu denken, zurückfällt.
schon eine Marx-Lektüre hinter sich gehabt haben? Wenig wahrscheinlich. Unbezweifelbar aber
ist, dass er den Begri recht oft benutzt und wichtig ndet. Übrigens ist Heidegger natürlich nicht
der Einzige, der auf den primär ungegenständlichen Charakter der Philosophie hingewiesen hat. All
jene Philosophen wie z.B. Pierre Hadot oder heute anscheinend Giorgio Agamben, die Philosophie
als „Lebensform“ charakterisieren, sind wie Heidegger Kritiker der Vergegenständlichung des
Philosophierens. Dennoch setzt Heidegger seine Kritik anders an –wenn auch das „Leben“ bei ihm
von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt hat. Vgl. Trawny (2019).
9
„Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen“. Bei solchen Sätzen beginne ich daran zu zwei-
feln, dass Heidegger kein Ironiker gewesen sein soll.
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Denn wie sich das Sein selbst“ (oder das Ereignis“) in spezifischen
Kulturgestalten manifestiert, ist eine Frage, die auf jene „transzendentale
Denkfigur, die Heidegger ablehnt, angewiesen bleibt. Das „Sein selbst“ kann
keine Kultur oder ihren Zustand „begründen.
Heideggers Denken ist ergebnis- und gegenstandslos. Das bedeutet nicht,
dass es keine Themen bespricht. Die späten Themen des „Ge-Stells“ und
des „Ge-Vierts“ beanspruchen dieses Denken über Jahrzehnte hinweg.
Doch die „innerste Be-wgnis des Denkens“ verhindert und verweigert
eine Dogmatisierung etwaiger Resultate dieser Thematisierungen. Wer bei
Heidegger Lehren finden will, ignoriert die Ziel- und Gegenstandlosigkeit
dieses Denkens. Die einzige Lehre, die es möglicherweise gibt, wäre die,
dass es keine gibt und geben kann.
Ein Einwand liegt nahe. Der Gegenstand des vorliegenden Textes
sind Heideggers Überlegungen zu einem gegenstands- und ziellosen
Denken. Schließlich hat Heidegger sie niedergeschrieben, demnach eine
gegenständliche Spur hinterlassen. Hätte Heidegger „nur“ gedacht und wie
Sokrates die Schrift vermieden, darüber hinaus auch keinen Platon gehabt,
würde das Denken erst wahrhaft gegenstands- und ziellos sein. So lange es
sich äußert, bleibt es gegenständlich.
Heidegger hat sich mit der Schrift und ihrer Bedeutung für sein Denken vor
allem in den Schwarzen Heften beschäftigt und die „Schrift der dichtenden
Sage des ‚Seyns“ als das „Handwerk des Denkens“ bezeichnet (Heidegger,
2015, p. 118). Diese Schrift ist für Heidegger die Handschrift“ (p. 347);
ein Gedanke, der ohne Zweifel mit dem Sachverhalt zusammenhängt, dass
Heidegger alles, was er verfasste, mit der Hand schrieb. Eine Schreibmaschine
benutzte er nie.
Ich will mich auf die Diskussion über die Eigenschaften und etwaigen Vorzüge
der Handschrift –jenseits der Graphologie selbstverständlich–, oder über die
technischen Eigenschaften der Maschinenschrift nicht einlassen. Wichtiger
ist, dass Heidegger hinzufügt: „wenn sie der Nachschrift des Seyns in die
Sprache hilft“ (p. 347). Indem die Handschrift „Nachschrift des Seyns
ist, entzieht Heidegger ihr die Eigenständigkeit. Der schreibende Philosoph
„entspricht“ einer anderen Schrift: „Jede echte Schrift ist Nachschrift. Sie
schreibt nicht eine andere ab, doch sagt sie, indem sie der Sache entspricht“
(p. 346). Und dann heißt es weiter: Vielleicht ist die wesenhafte Schrift sehr
selten; nicht weil der Mensch sie selten leistet, sondern weil die Nach-schrift
als Sage des Seyns im Seyn selber gespart bleibt“.
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Die „Sache, der die Schrift des Denkens „entspricht“, ist das „Seyn
selber“. In ihm bleibe die „Nach-schrift als Sage des Seyns gespart“. Die
„Nach-schrift“ ist so nicht nur keine Abschrift. Sie ist zudem auch niemals
erschöpfend in dem Sinne, dass das „Seyn selber“ zur Schrift werden könnte.
Das „Seyn selber“ ist unerschöpflich in seinem Sinn, in seinen Bedeutungen.
Dass Heidegger es in so vielen graphischen Formen darstellen konnte, ist ein
Hinweis darauf.
Daraus entsprang r Heidegger ein ganzes Schrift-Feld, auf dem (sich) sein
Denken in allen Richtungen „be-genkann. In allen Bewegungen bedeutet,
dass Heidegger sein Denken nie nur in eine Richtung schriftlich entfaltet
hat. Er arbeitete zuweilen an auch verschiedenen Manuskripten gleichzeitig;
dieses Arbeiten, das in der Tat mehr mit der Gestaltung eines Feldes als mit
der Gestaltung eines „Werkes“ zu tun hatte.
Die Gegenstands- und Ziellosigkeit des Denkens antwortet auf die
Unerschöpflichkeit der Bedeutungen im „Seyn selber“. Es „be-wëgt“ sich in
ihm, indem es seine Unerschöpflichkeit „nach-schreibt“. Dieses „Be-gen
ist so offen, dass Heidegger sogar dem „Grammatischen“ seinen regulierenden
Einfluss auf die Schrift streitig macht (p. 358)
10
. Heideggers Forderung der
Offenheit des Denkens und Schreibens lässt sich selbst an der Grammatik,
dieser für ihn römischen Regulierung der Sprache, nicht begrenzen. Die oft
belächelten Eigentümlichkeiten der Heideggerschen Sprache entspringen
einer bewussten Entscheidung gegen dieses Regelwerk.
Wenn das „Seyn selber“ alle möglichen Schriften in sich „spart“, ist jede
gegenständliche Schrift nichts weiter als „vor-läufig. Sie als eine endgültige
Bedeutung des Gesparten zu verstehen, wäre ein gewaltsamer Fehler, eine
nicht zu rechtfertigende Behauptung. Und weil das gegenstands- und ziellose
Denken über die Schrift sich ihrer Unerschöpflichkeit überlässt, neigt es zur
Hyperbo. So heißt es einmal in Heideggers Idiom:
Schreibt die Sage des Denkens ihr Gedachtes für die Leser? Oder ist ihre
Nachschrift anfänglich die Inschrift des Seyns?, als welche es sich in die
eigentliche Vergessenheit des Brauchs einschreibt? Die Inschrift weste dann
selber als die Enteignis im Unter-schied (p. 401).
10
„Dem Grammatischen bleibt das Wesen der Schrift als der Nach-schrift des Seyns gerade verborgen“.
Trawny, P. (2020). Heideggers Denken. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der
Philosophie. Cuestiones de Filosofía, 6 (27), 91-109.
doi: https://doi.org/10.19053/01235095.v6.n27.2020.12021
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Die philosophische Schrift adressiert sich nicht an „Leser“, sondern vielmehr
ans „Seyn selber“, dessen „anfängliche Nachschrift“ die „Inschrift des
Seyns“ sei. Die „Inschrift“ aber schreibt sich nicht in irgendeinen öffentlichen
Diskurs ein, sondern „in die eigentliche Vergessenheit des Brauchs, d.h. in
die Verborgenheit des „Ereignisses, in die „Enteignis im Unter-schied“. Diese
extreme Überspitzung des gegenstands- und ziellosen Denkens als „Inschrift
des Seyns“ jenseits aller „Leser“ ist eine jener Gesten der Heideggerschen
Philosophie, die scheinbar unbemerkt von ihm in einen Dogmatismus
umschlagen; in den Dogmatismus des einzigen lebenden Denkers, der
von der „Inschrift des Seyns weiß –Heidegger, der Pseudo-Prophet. Und
doch muss gerade für die hyperbolischen Ausbrüche dieses Denkens betont
werden, dass sie dem Charakter des „Be-wëgensnicht widersprechen. Auch
die Hyperbolé ist ein Weg. Heidegger wählt ihn bewusst und verlässt ihn
wieder.
Aus der „Frage nach dem Sinn von Sein“ ist das „Ereignis“ und das „Seyn
selbst“ und das „Seyn“ und noch anderes entstanden. Sie entfalten den
Raum und die Zeit, in dem und der (sich) das gegenstands- und ziellose
Denken „be-wëgen“ kann, in der es rhetorisch und antirhetorisch, destruktiv
und dogmatisch, poetisch und antipoetisch, exoterisch und esoterisch,
wissenschaftlich und antiwissenschaftlich, metapolitisch und apolitisch,
christlich und antichristlich, ethisch und antiethisch sowie philosophisch und
antiphilosophisch erscheinen kann. Diese Offenheit des Denkens versucht
Heideggers Philosophieren zu praktizieren und praktizierend deutlicher
werden zu lassen.
Zurück zum Anfang. Die Geschichte der Philosophie ist eine der
Vergegenständlichungen von Bedeutung. Sie manifestiert sich in Texten,
die zu „Werken“ werden, „Diskurse“ mit „Argumenten“ beliefern. Daraus
ergibt sich eine institutionelle Form der Philosophie und des Philosophierens,
die sich auch in ihren Popularisierungen fortsetzt. Wenn im akademischen
Studium das „Werk“ als Studien- und Forschungsgegenstand dient, so in der
Popularisierung der Philosophie als Ware. Das alles gibt der Philosophie eine
materielle Plattform, auf die sich das Denken beziehen kann, indem es selbst
an ihr baut
11
.
11
Heideggers Idiosynkrasie im Verhältnis zur Öentlichkeit ist bekannt. So schreibt er einmal: „Das
Kesseltreiben gegen mein Denken, d.h. gegen die Vorstellung, die man sich davon gemacht hat, ver-
stärkt sich überall her und nimmt die Form der Organisation an. Die Einkesselung muß bei solchem
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Diese Tendenz der Philosophie zum Gegenstand schlägt sich nicht nur in
der Reflexion, Lehre und Rekonstruktion ihrer Text-Geschichten nieder,
sondern darüber hinaus in der Anknüpfung des Philosophierens an
bestehende gesellschaftliche und politische „Diskurse“ wie dem Vormarsch
der KI- und Gehirn-Forschung, dem Rassismus, der Geschlechtertheorie
oder dem Corona-Virus etc. Hier nun wird die Philosophie zu einem sich
verobjektivierenden Kommentar von Objekten, der wiederum in Texten
seine eigene Geschichte verobjektiviert. Das massivste Objekt einer solchen
Philosophie scheint übrigens die Gesellschaft zu sein, in der „Debatten
entstehen und vergehen.
Es wäre zu einfach, diese Materialisierung der Philosophie als
Verfallsphänomen oder als narzisstische Schwäche zu interpretieren. Das
Begehren nach Präsenz und Permanenz hat tiefere Ursachen als die Ökonomie
des Narzissmus, die allerdings ihr Resonanzraum ist. Heidegger hat das in
seinen Auslegungen der von ihm als „Metaphysik“ bezeichneten Epoche des
Philosophierens herauszubekommen versucht. Aber trotz seiner Hinweise
auf das „Ge-Stell“ bleibt die Frage nach dem Vorrang einer bestimmten
Auffassung der Wirklichkeit (Realität) und ihrer Bedingungen bestehen.
Warum integriert sich die Philosophie so mehr oder weniger unreflektiert in
die bestehenden Strukturen?
Dass all dem ein nichtgegenständliches Ereignis –das Denken– vorausgeht,
weiß jeder und jede und doch wird ihm als solchem philosophisch kaum
Aufmerksamkeit geschenkt. Gewiss, Platon oder Hegel haben „gedacht“,
bevor und indem sie ihre Texte produzierten, aber das scheint wie eine
Banalität keine Rolle zu spielen. Doch ist es wirklich nur eine Banalität? An
diesem Punkt setzt Heideggers Verständnis des Denkens an. Er versucht,
genau dieses vor aller Verobjektivierung liegende Geschehnis zu betonen,
indem er es –so weit als möglich– von jener abzulösen versucht.
Damit gerät eine bestimmte, sehr mächtige Form der Philosophie ins Wanken.
Jede Sedimentierung des Denkens in „Werken“ und „Diskursen“ erweist sich
als eine Verstellung und als ein Abbau von Offenheit. Ein Philosophieren,
das sich in Resultaten von Erkenntnisprozessen darstellt, hat sich den
Umtrieb gelingen. Aber man wird den Kessel –leer nden“ (Heidegger, 2020a, p. 29). Ob es eine
Jagd auf Heideggers Denken gegeben hat, mag dahingestellt bleiben. Doch der Hinweis auf die
Unmöglichkeit, sein Denken gleichsam dingfest zu machen, ist bemerkenswert.
Trawny, P. (2020). Heideggers Denken. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der
Philosophie. Cuestiones de Filosofía, 6 (27), 91-109.
doi: https://doi.org/10.19053/01235095.v6.n27.2020.12021
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Notwendigkeiten der Institutionalisierung und der Ökonomie unterworfen.
Wo man Studenten und Studentinnen Denken lehren sollte, lehrt man sie
scheinbar feststehende Kenntnisse aus der Geschichte der Philosophie. Selbst
wo zurecht eingeräumt wird, dass Beides zusammengehört, wird das Denken
selbst nicht weiter thematisiert
12
.
Andererseits dürfte die Radikalität, mit der Heidegger jede
Vergegenständlichung des Denkens, ja auch nur jede Verknüpfung
mit bestehenden Institutionen und Öffentlichkeiten (jedenfalls im
Denken der Schwarzen Hefte und der zu seiner Zeit unveröffentlichten
„seinsgeschichtlichen Abhandlungen“) das bleiben, als was sie sich selbst
auch häufig beschrieben hat, nämlich als „einzigartig
13
. Die Entscheidung,
das Denken in dieser Weise dem gegenstands- und ziellosen Be-wëgen
zu überlassen, ist zu individuell, als dass sie unmittelbar übernommen
werden könnte. Zudem würde eine solche Mimesis Heideggers eigentliche
Motivation der Entscheidung konterkarieren: Ihr antidogmatischer Charakter
würde zum Dogma.
Und dennoch legt Heideggers Denken den Finger in die Wunde. Die
Auffassung, in der Philosophie ginge es vorzüglich um zu lehrende und zu
studierende „Werke, arbeitet der Institutionalisierung und Ökonomisierung
bzw. Popularisierung der Philosophie vor. Diese wiederum fördern jene
Auffassung, so dass das Innerste der Philosophie, das „Denken selbst“,
immer mehr in Vergessenheit gerät. Das wird sich schließlich auf ihre
Vergegenständlichungen im „Werk“ selbst auswirken. Inzwischen scheinen
die „Werke“ selber nur noch eine Reminiszenz dessen zu sein, was sie einmal
waren. Die Philosophie ist ein „Schatten in einer hle“ (Nietzsche, 1980, p.
467) geworden.
12
Man könnte das hier dargestellte Problem auch im Kontext der von Heidegger immer wieder the-
matisierten „Logik“ aufzäumen. Heidegger arbeitete früh an einer Destruktion der traditionellen
Logik, um mit der Dichtung eine andere zu formulieren (Heidegger, 2020b, p. 10). Die späteren
Erläuterungen zum „Denken“ bilden –objektiv betrachtet– mit diesen früheren Gedanken zur
„Logik“ einen Zusammenhang.
13
„Denken ist in dem einzigartigen Sinne; denn es ist das, was dem Wesen des Seyns, dem Ereignis
des Brauchs ent-springt und innerhalb seiner in den Brauch, ihn hütend, und für ihn ein-springt“
(Heidegger, 2015, p. 398).
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