Trawny, P. (2020). Heideggers Denken. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der
Philosophie. Cuestiones de Filosofía, 6 (27), 91-109.
doi: https://doi.org/10.19053/01235095.v6.n27.2020.12021
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Mich interessiert, welche Rezeptionshaltung und -gewohnheit sich aus
diesen Verobjektivierungen für die Philosophie ergab und ergibt, wie sich
also schon seit Jahrhunderten ein Zugang zur Philosophie sedimentiert, der
die Schrift(en), den Text, das „Werk, den „Diskurs“, in ihre Mitte stellen.
Darüber hinaus möchte ich fragen –naheliegender Weise–, ob das Innerste
der Philosophie selbst, das, was sie nicht nur sein will, sondern eigentlich
auch sein muss, um sie selbst zu sein, in dieser Rezeptionssedimentierung
erfasst oder auch nur berührt wird. Ich möchte dabei keineswegs allein
auf das europäische Verständnis einer zum Wissen (epistéme) tendierenen
Philosophie hinaus. Mir ist bewusst, dass die Redeweise von einem „Innersten
der Philosophie“ –gleichsam von ihrer Seele– nicht unproblematisch ist.
Doch ich möchte an ihr festhalten.
Um diesen Fragen näher zu kommen, möchte ich mich auf einen Vorgang
beziehen, der in der Geschichte der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts
gewiss nicht allzu häufig zu finden ist. Es geht mir um die vor allem
institutionelle Rezeption der Philosophie Martin Heideggers; allerdings
eine Rezeption, die auch über die Grenzen der institutionell-akademischen
Wahrnehmung hinaus eine Wirkung entfaltet hat. Meine These ist die, dass
die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte und auch der vielen Anmerkungen
zu Sein und Zeit (vor allem im Band 82 der Gesamtausgabe) (Heidegger, 2017)
auf einzigartige Art und Weise die Rezeption dieser Philosophie verändert
haben. Dieser Vorgang oder diese Veränderung wirft wiederum ein Licht auf
das angesprochene Problem der Art und Weise, wie Philosophie überhaupt
rezipiert wird und werden kann.
Als 2013/14 die ersten später von Heidegger selbst so genannten Schwarzen
Hefte erschienen, drehte sich die hektische Diskussion vor allem um
die in ihnen befindlichen antisemitischen Äußerungen. Sie spaltete die
Diskutierenden mehr oder weniger in drei Lager: Da waren die orthodoxen
Heidegger-Apologeten, die, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann
4
(von
Herrmann und Alfieri, 2017), überhaupt den Status der Schwarzen Hefte
als ernstzunehmenden Werkteil im Heideggerschen Denken bezweifelten
und die sich auf Juden und Judentum beziehenden Passagen nachgerade
für berechtigte „Juden-Kritik“
5
(Vietta, 2015) hielten; dann gab es die
4
Bereits der Titel verkündet ein Dogma, das nichts mit Heideggers Denken zu tun hat.
5
Um einen Überblick über die verschiedenen Positionen in der mehr oder weniger aktuellen
Diskussion zu gewinnen, sei auf die Aufsatzsammlung Heidegger und der Antisemitismus.
Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger (2016) hingewiesen.